Später Rücktritt von Lebensversicherung: aktuelle Rechtslage weiterhin Unionsrechtswidrig

Article • Bank-, Versicherungs- und Wertpapieraufsichtsrecht von Fabian Schinerl

"Ewige" Rücktrittsrechte beschäftigen weiterhin die Gerichte. Nun gibt es erstmals ein Urteil zur neuen Rechtslage.

Unionsrechtliche Grundlagen

Im Rahmen des europäischen Binnenmarkts haben Verbraucher:innen die Qual der Wahl bei der Auswahl des passenden Versicherungsprodukts. Um diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, muss der/die Verbraucher:in vor Vertragsabschluss alle erforderlichen Informationen erhalten, um entscheiden zu können, welcher Vertrag seinen/ihren Bedürfnissen am besten entspricht. Dazu zählt insbesondere die Aufklärung über das Rücktrittsrecht – also das Recht, ohne weiterer Begründung binnen weniger Tage nach Abschluss zurückzutreten.

 

Österreichisches Recht

In Umsetzung dieser unionsrechtlichen Verpflichtungen sieht das österreichische Recht vor, dass der/die Verbraucher:in innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt der erforderlichen Informationen vom Vertrag zurücktreten kann. Werden diese Informationen fehlerhaft oder gar nicht erteilt und ist dies darüber hinaus geeignet den/die Verbraucher:in in die Irre zu führen, beginnt die Rücktrittsfrist nicht zu laufen. Die Folge: Dem/Der Verbraucher:in steht ein ”ewiges” Rücktrittsrecht zu. Dieses Rücktrittsrecht hat in den vergangenen Jahren Justiz, Wissenschaft und auch die Öffentlichkeit beherrscht wie sonst kaum ein anderes versicherungsrechtliches Thema.

Entscheidendes Detail ist der Unterschied zwischen Rücktritt und Kündigung. Mit einer Kündigung gibt der/die Verbraucher:in nur bekannt, dass er/sie einen laufenden Vertrag demnächst beenden möchte. Der Rücktritt bietet hingegen die Möglichkeit, einen abgeschlossenen Vertrag rückwirkend aufzulösen.

In Österreich unterscheidet das Versicherungsvertragsgesetz (§ 176 Abs 1 VersVG) nicht weiter: Bei Kündigung oder Rücktritt einer Kapitalversicherung soll der/die Verbraucher:in im Gegenzug nur den Rückkaufswert erhalten. Dieser liegt meistens deutlich unterhalb der eingezahlten Investitionssumme. Der EuGH qualifizierte diese Regelung zu Recht als unionsrechtswidrig, da Rücktritt und Kündigung des Vertrags dieselben rechtlichen Wirkungen nach sich ziehen. Damit wird dem unionsrechtlich beabsichtigten Rücktrittsrecht die praktische Wirksamkeit (effet utile) entzogen. Konsequenz ist, dass der/die Verbraucher:in bei Rücktritt seine/ihre gesamte Netto-Versicherungsprämie rückerstattet erhält. Das sind die eingezahlten Prämien, reduziert um die Risikoprämie zuzüglich der auf die Risikoprämie entfallende Teil der Versicherungssteuer. Zusätzlich können Zinsen für die letzten drei Jahre begehrt werden.

 

Angepasste Rechtslage

Der österreichische Gesetzgeber reagierte mit einer Gesetzesnovelle (§ 176 Abs 1a VersVG). Nunmehr ist für die ersten fünf Jahre nach Vertragsabschluss ein zeitlich abgestuftes System für Rücktritte vorgesehen, das sowohl die Interessen der Versicherten als auch jene des Versicherers berücksichtigt.

 

Was gilt bei einem Rücktritt ab dem sechsten Jahr nach Vertragsabschluss?

Wer das novellierte Gesetz oberflächlich betrachtet, könnte glauben, dass die Problematik beseitigt wurde. Der Gesetzgeber hat mit § 176 Abs 1a VersVG lediglich eine Rechtsfolgennorm eingeführt. Diese regelt nur die Rechtsfolgen eines (Spät-)Rücktritts bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss. Danach soll der/die Verbraucher:in weiterhin nur den Rückkaufswert erhalten – unabhängig von Rücktritt oder Kündigung. Beide Vertragsbeendigungen werden damit weiterhin gleichbehandelt. Vor diesem Hintergrund überrascht eine rezente Entscheidung des OGH wenig – dieser hatte die Regelung als (erneut) unionsrechtswidrig eingestuft (OGH am 16.2.2022, 7 Ob 185/21p). Somit bekommt der/die Verbraucher:in bei Rücktritt weiterhin seine gesamte Netto-Versicherungsprämie rückerstattet.

Das Team
Fabian Schinerl
Legal Expert / Bank-, Versicherungs- und Wertpapieraufsichtsrecht
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